Sehr geehrte Frau Meier,
„Viva vox docet“ – „Die lebendige Stimme lehrt“. So lautet ein lateinisches Sprichwort, bei dessen Umsetzung jedoch selbst Lateinlehrer und -lehrerinnen Probleme haben.
Stimmbildung ist eine häufig zu wenig ernst genommene Disziplin an den pädagogischen Fakultäten und Hochschulen. Dementsprechend haben viele Lehrerinnen und Lehrer trotz bester didaktischer und fachlicher Ausbildung Schwierigkeiten, zu ihren Schülerinnen und Schülern hervorzudringen. Kein Wunder. Eine unruhige Klasse kann eine Lautstärke von bis zu 70 Dezibel erreichen. Wenn der Pädagoge oder die Pädagogin da mithalten will, muss er bzw. sie schreien oder mit einer weniger lauten, aber dafür ausgebildeten kräftigen Stimme beruhigend wirken.
Wer Kinder unterrichten muss, ergeht wie einem Sänger: Die Stimme ist das Instrument, ohne das die Arbeit nicht geleistet werden kann. Darum muss das Instrument gepflegt und der Umgang mit ihm regelmässig trainiert werden.
In der letzten Zeit kommen immer mehr Lehrer und Lehrerinnen zu mir, weil ihre Stimme durch die übermässigen Strapazen des Unterrichtens versagt. Manche erzählen, dass jedes Wort eine Anstrengung für sie bedeutet und sie an ihre stimmlichen Grenzen kommen. Nur die wenigsten kennen die Anatomie und Zusammenhänge des menschlichen Stimmapparates. Die Muskulatur in der Kehle ist sehr komplex. Es gibt jeweils Muskeln für die Spannung und Entspannung der Stimmbänder. Der wichtigste stimmbandentspannende Muskel ist der Musculus cricopharyngeus, der sich hinter dem Ringknorpel befindet. Bei zu viel Druck, meist hervorgerufen durch Stress, kontrahiert der Musculus cricopharyngeus dauerhaft. Meine Erfahrung zeigt, dass die Verengung der vielen kleinen Muskeln am Zungenbein die Ursache dieses Druckes und einer hochgezogenen Kehle ist. Darum vermittle ich meinen Klientinnen und Klienten, dass die Stimme beim Reden viel tiefer im Hals, hinter dem Ringknorpel spürbar sein soll.
Das Zungenbein ist im Körper der einzige Muskel, welcher keine Knochenverbindung hat. Bei Stimmgebung können diese kleinen verengten Muskeln am Zungenbein eine falsche Stützfunktion übernehmen. Wenn die Kehle dadurch nach oben in die Enge gezogen wird, dann verspannen sich ebenfalls Nackenmuskeln, Schultern, Kiefer und Kaumuskeln. Demzufolge kontrahiert der Muskulus cricopharyngeus hinter dem Ringknorpel, jedes Wort wird mit zu viel Atemdruck gesprochen und die Stimmbänder schliessen nicht mehr richtig.
Beim Rülpsen, Schluckauf, Schluchzen oder beim Schlucken entspannt sich der stimmbandentspannde Musculus cricopharyngeus. Während dieser natürlichen Vorgänge dehnt sich der Schlundmuskel nach unten und der Ringknorpel bewegt sich Richtung Schildknorpel leicht nach oben. Wenn es gelingt, in dieser Weise den Cricopharingeus zu entspannen, tönt die Stimme tiefer und sie hat eine höhere Resonanz. Die Vibration der Stimme weitet sich im ganzen Körper aus, der Hals fühlt sich nicht mehr zugeschnürt an, und das drucklose Sprechen gelingt wieder.
Hier eine Übung zur Entspannung der Stimme, die ich meinen Schülerinnen und Schülern als Hausaufgabe mitgebe:
Legen Sie ihre Finger oberhalb des Brustbeines tief unten an den Hals. Schlucken Sie langsam etwas Wasser und nehmen Sie wahr, wie sich die Muskulatur im Schlund genau da, wo Sie schlucken, entspannt. Atmen Sie danach durch den Mund in die gleiche Stelle und Sie merken, wie das Luftgeräusch tiefer und dunkler tönt. Sobald das Atemgeräusch und der Druck beim Ein- und Ausatmen identisch wird, belebt sich der Musculus cricopharyngeus.
Mit dieser und anderen Übungen, regelmässig ausgeführt, ist es möglich, der Stimme eine tiefere und festere Struktur zu geben, mit deren Hilfe man auch den schlimmsten und lautesten Rabauken in der Klasse beikommen kann. So macht auch der Lehrerberuf wieder Spass und Sinn.
Edit Siegfried-Szabo ist studierte Konzertsängerin und arbeitet in Basel als Gesangspädagogin und Stimmbildnerin, die nicht nur Sängerinnen und Sänger unterrichtet, sondern immer mehr Menschen trainiert, die in ihrer Arbeit auf eine gute Sprechstimme angewiesen sind.
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